Organische Grundlagen und Forschungsergebnisse
Obwohl der Krankheitsmechanismus von ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom) noch nicht vollständig geklärt ist, wurden in den letzten 30 Jahren zahlreiche pathophysiologische Auffälligkeiten festgestellt, die die multisystemischen und schwerwiegenden Symptome dieser Krankheit erklären.
Vaskuläre Dysfunktion
Einer der am häufigsten reproduzierten Befunde bei ME/CFS ist ein verminderter Blutfluss im Gehirn. Costa et al. (1995) fanden bei ME/CFS-Patientinnen einen signifikant reduzierten Blutfluss im Hirnstamm im Vergleich zu gesunden Kontrollen und Depressionserkrankten. Eine großangelegte Studie von van Campen et al. (2020) mit über 400 ME/CFS-Patientinnen zeigte, dass der zerebrale Blutfluss in aufrechter Position gegenüber liegender Position im Durchschnitt um mehr als das Dreifache abnimmt und dass dieser Abfall mit der Orthostatischen Intoleranz korreliert.
Endotheliale Dysfunktion ist eine weitere häufig gezeigte Auffälligkeit bei ME/CFS. Newton et al. (2011) und Scherbakov et al. (2020) wiesen darauf hin, dass bei ME/CFS eine eingeschränkte Gefäßerweiterung vorliegt, was zu Fehlregulationen der Blutzirkulation und Minderversorgung der Organe und Muskulatur führt. Eine In-vitro-Studie von Bertinat et al. (2022) zeigte, dass Blutplasma von ME/CFS-Erkrankten die Stickstoffmonoxid-Produktion (NO) von Endothelzellen einschränkt, was für die Gefäßerweiterung wichtig ist. Zudem fand Nunes et al. (2022) eine Überaktivierung von Blutplättchen sowie vermehrte Mikrogerinnsel bei ME/CFS-Patient*innen. Flaskamp et al. (2022) berichteten über erhöhte Level von Autoantikörpern, die an Endothelzellen binden.
Schon in den 80er Jahren wies Simpson (1989) auf eine veränderte Form von roten Blutkörperchen bei ME/CFS hin. Saha et al. (2019) zeigten, dass die roten Blutkörperchen von ME/CFS-Erkrankten sich in kleinsten Kanälen um den Faktor 7 weniger stark verformen und zudem langsamer fließen als die von gesunden Kontrollen. Diese eingeschränkte Verformbarkeit ist wichtig für eine funktionierende Mikrozirkulation des Blutes.
Störungen des Energiestoffwechsels
Aufgrund der gestörten Blutzirkulation wird angenommen, dass die Sauerstoffversorgung des Gewebes bei ME/CFS reduziert sein könnte. McCully und Natelson (1999) zeigten, dass sowohl nach Sportübungen als auch nach künstlich herbeigeführter Ischämie (blockierte Durchblutung) die Sauerstoffsättigung in der Beinmuskulatur bei ME/CFS-Betroffenen langsamer wieder ansteigt als bei gesunden Kontrollen. Tanaka et al. (2002) und Neary et al. (2008) berichteten über eine verminderte Sauerstoffsättigung im Gehirn bei stehender Position und während bzw. nach maximalem Training bei ME/CFS-Patient*innen. Joseph et al. (2021) fanden in einer großen Studie mit einem invasiven kardiopulmonalen Belastungstest eine eingeschränkte systemische Sauerstoffversorgung bei ME/CFS.
Sauerstoff ist für die aerobe Energiegewinnung notwendig. Bei Sauerstoffmangel schalten Körperzellen auf die ineffizientere anaerobe Energiegewinnung um, bei der Laktat entsteht. Zahlreiche Studien belegten erhöhte Laktatspiegel im Liquor (Nervenwasser) bei ME/CFS-Patient*innen. Matthew et al. (2008) fanden beispielsweise bei ME/CFS-Betroffenen 3,5-fach erhöhte ventrikuläre Laktatspiegel gegenüber gesunden Kontrollen. Lien et al. (2019) zeigten, dass ME/CFS-Erkrankte bei gleicher Leistung während eines kardiopulmonalen Belastungstests (CPET) höhere Laktatspiegel aufweisen, was bei einem wiederholten CPET nach 24 Stunden noch deutlicher wurde. Franklin und Graham (2022) bestätigten in einer Meta-Analyse einen starken Einbruch der anaeroben Schwelle bei wiederholtem CPET, was das Kardinalsymptom von ME/CFS, die Post-Exertionelle Malaise, objektiviert.
Für die wichtigste Energiequelle des Körpers, die Glukose, zeigten Tirelli et al. (1998) und Siessmeier et al. (2003) mittels Positronen-Emissions-Tomographie eine signifikant geringere Aufnahme von Glukose im Gehirn bei einem Teil der ME/CFS-Betroffenen.
Gestörte adrenerge und acetylcholinerge Signalübertragung
Ein Großteil der Körperfunktionen wird unbewusst über das Autonome Nervensystem (ANS) gesteuert. Studien von Spence et al. (2004) und Yamamoto et al. (2012) zeigten, dass die Signalübertragung über Acetylcholinrezeptoren bei ME/CFS-Patient*innen gestört ist. Kavelaars et al. (2000) und Hartwig et al. (2020) fanden, dass ß2-Adrenorezeptoren bei ME/CFS weniger stark auf Signalübertragung reagieren. Diese Rezeptoren befinden sich neben dem ANS auch auf Blut- und Immunzellen und beeinflussen die Zytokinproduktion von Monozyten.
Autoantikörper gegen G-Protein-gekoppelte Rezeptoren
Mehrere Studien messen bei einem Teil der ME/CFS-Betroffenen erhöhte Titer von Autoantikörpern (AAK) gegen verschiedene G-Protein-gekoppelte Rezeptoren (GPCR), die unter anderem an der Blutflussregulation beteiligt sind. Freitag et al. (2021) zeigten einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Höhe der Autoantikörper-Level und der Schwere der ME/CFS-Symptome. Die ELISA-Technik zur Ermittlung der GPCR-AAK-Titer hat jedoch ihre Grenzen, da sie nur die Höhe der Antikörper-Level misst, nicht aber deren funktionelle Aktivität.
Replikationen bei Long-COVID
Viele der pathophysiologischen Befunde bei ME/CFS wurden auch bei Long-COVID-Patient*innen nachgewiesen. Dazu gehören ein reduzierter zerebraler Blutfluss, endotheliale Dysfunktion, GPCR-Autoantikörper und ein eingeschränkter Energiestoffwechsel im Gehirn.
Fazit
Die wissenschaftliche Literatur zeigt zahlreiche physiologische Auffälligkeiten bei ME/CFS, die zusammengenommen ein klares Bild der Erkrankung ergeben. Diese umfassen Störungen der Blutflussregulation, des Energiestoffwechsels und des autonomen Nervensystems sowie Hinweise auf Autoantikörper. Um die Erkenntnisse zu vertiefen und diagnostische Biomarker zu entwickeln, sind weitere Forschungen mit großen Stichproben und modernsten Methoden notwendig.
Ein wichtiges Anliegen der zukünftigen Forschung sollte die Finanzierung und Standardisierung diagnostischer Verfahren sein, um einheitliche und vergleichbare Kohorten zu schaffen und die Ergebnisse in den Kontext der bereits veröffentlichten Literatur zu stellen. Dabei können auch Erkenntnisse aus verwandten Krankheitsbildern wie POTS oder Long COVID wertvolle Hinweise liefern.